Datum: geschieht an jedem Tag, an dem die Bahn fährt
Tatort: häufiger in Fern- als Regionalzügen
Ich hätte diese kurze Geschichte auch "Der Aussteiger" überschreiben können. Nach meiner nicht repräsentativen und vorurteilsbeladenen Wahrnehmung zeigen das im folgenden beschriebene Verhalten
jedoch ganz überwiegend weibliche Reisende mittleren Alters.
Bis zur Einfahrt in den nächsten Bahnhof ist noch eine üppige Viertelstunde Zeit, dennoch verbreitet sich Unruhe im Großraumwagen. Die Aussteigerin erhebt sich ruckartig und spontan von Ihrem
Sitz, zerrt hektisch den im Gepäckfach verstauten Koffer schwungvoll heraus - was die um Sie herum sitzenden Fahrgäste die Köpfe wie bei einem Steinschlag einziehen läßt - zieht den Mantel hastig
und mit großer Geste an und eilt, nach kurzer Berechnung, der entferntesten Waggontür entgegen. Dabei touchiert Sie manch Mitreisenden unsanft mit dem in Höchstgeschwindigkeit hinter ihr her
surrenden Koffer, doch sie hat ihr Ziel klar vor Augen. Sie kämpft um die Pole Position beim Ausstieg und wird auch heute als Erste die Tür erreichen. Ihre ungebrochene Siegesserie setzt sich
fort; noch sind es 12 Minuten bis zum Halt des Zuges.
Kurz vor dem Einfahren in den Zielbahnhof reihen sich viele weitere ausstiegswillige Passagiere hinter ihr ein, die Schlange reicht weit in den Großraumwagen zurück. Der Zug hält und sogleich
rüttelt die Aussteigerin heftig am Türgriff, der sich jedoch auch heute erst nach dem Entweichen der Druckluft öffnen läßt. Das hätte sie wissen können, aber sie ist ja anscheinend sehr in Eile.
Endlich kann sie die Tür öffnen, die Sonne strahlt ihr ins Gesicht und sie schaut triumphal in die Menge der vor ihr, nein, leicht unterhalb von ihr, wartenden, dicht gedrängten
Einstiegswilligen, die der siegreichen Aussteigerin offenbar nahe sein wollen und ihr nur eine schmale Gasse öffnen. Die Aussteigerin setzt erst einen Fuß auf festen Boden, wuchtet dann den
Koffer wie eine Schwung aufbauende Hammerwerferin hinterher - was höchste Gefahr für die Schienbeine der Wartenden bedeutet - und setzt den zweiten Fuß auf die Erde.
In diesem Moment fällt aller Druck, jede Hektik und alle Eile gleichsam wunderbar von ihr ab. Die Aussteigerin bleibt stehen, bewegt sich keinen Schritt mehr weiter. Sie will jetzt ihren hart
erkämpften Triumph auskosten und läßt sich dabei weder von den hinter ihr drängenden anderen Ausstiegswilligen, noch von den vor ihr nervös tippelnden Einstiegswilligen diese Freude der als Erste
Angekommenen nehmen. Wen je das Bild "vom Bad in der Menge " zutraf, dann jetzt für die Aussteigerin. Das Glück der Ankunft scheint vollkommen.
Einen Augenblick später verkennt der hinter ihr auf Ausstieg hoffende Reisende den Zauber der Situation, setzt einen ersten Schritt auf die Stufen, kann mit seiner schweren Tasche nicht mehr
stoppen und prallt ungebremst auf den Rücken der Aussteigerin. Die folgende verbale Aufarbeitung der Geschehnisse kann ich hier leider nicht wiedergeben, um einer Sperrung meiner Webseite
vorzubeugen.
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