Mädchen auf Händen tragen

Die Bahn bezeichnet Menschen wie mich auf ihrer Webseite als "Extrempendler". Ich bin täglich viele Stunden auf "der Schiene" unterwegs und genieße es, entspannt unterwegs arbeiten, lesen und schlafen zu können. Es gibt jedoch Fahrten, die mich an meine Grenzen führen ... von diesen Erlebnissen berichte ich von Zeit zu Zeit in "Bahncard100-unterwegs".


Datum:  Sonntag, 5. Juli 2015

Tatort:   RE 79477 von Cottbus nach Berlin


Es roch zu meiner Linken etwas streng. Die Ursache dafür waren etwa nicht die sich beim Engtanz nahekommenden Mitreisenden im Gang, sondern die offenstehende Toilettentür gleich gegenüber. Der letzte Nutzer dieser Sanitäranlage der "DB", ein stattlicher Herr mittleren Alters, hatte ganz einfach ein schlechtes Timing. Während seines Aufenthaltes in diesem isolierten Bereich, stoppte auch der Zug und unser Waggon nahm weitere Fahrgäste - gibt es eigentlich eine Höchstgrenze an Passagieren für jeden Waggon, die das viel gerühmte Eisenbahnbundesamt vorschreibt? - für die Weiterfahrt nach Berlin auf. Somit gab es für den Nutzer der sanitären Einrichtung kein Entkommen mehr.

Der Rückweg aus dem WC war vollends von anderen Reisenden blockiert. Lediglich eine waghalsige Kletterpartie im 5. Schwierigkeitsgrad über die im Gang wie Malefiz-Barrikaden geschickt positionierten Gepäckstücke hätte unseren Nutzer noch zu seinem Platz zurückbringen können. Das war jedoch viel zu riskant. Er zog stattdessen die Beinfreiheit in seinem 1-Mann-Abteil bei geöffneter Tür vor. Mit einer noch halb vollen Flasche Bier in der Hand, ließen sich die restlichen 1 1/2 Stunden bis Berlin ganz gut überbrücken. Wenn nur dieses explosive Luftgemisch aus mit der Körperwärme kämpfenden Deodorants und Toilettenreinigungsmitteln nicht gewesen wäre.

Die Situation spitzte sich ein wenig zu, als aus gut 10 Metern Entfernung die Nachricht verbreitet wurde, daß ein junges Mädchen ebenfalls die Notwendigkeit verspürte, den Sanitärraum zu erreichen. Daraufhin zeigten insbesondere die Fahrgäste im Gang eine Körperbeweglichkeit, die einer hochklassigen Kür in der rhythmischen Sportgymnastik zur Ehre gereicht hätte. Das Mädchen wurde virtuos von Hand zu Hand weitergereicht, Passagiere windeten sich aus dem Weg, um Platz zu schaffen. Fast am Ziel angekommen, mußte nur noch der ausgewachsene Genießer den Toilettenraum verlassen. Dies löste Schockwellen wie im Winterschlußverkauf unter den umstehenden Fahrgästen aus. In der Folge landete ein auf dem Rücken geschnallter Rucksack mittig - nach einer golferisch hervorragend ausgeführten vollen Schulterdrehung - in meinem Gesicht. Auf meinem Sitzplatz hielt ich meinen Kopf unglücklich in den Weg und wollte mich auch nicht beschweren, zumal die Dame mit ihrer vorweggenommenen Einwandbehandlung kundtat, hinten keine Augen zu haben. Das stimmte.

Nach diesen gelungenen Actionszenen waren es nur noch 1 1/4 Stunden bis Berlin. Es wurde richtig langweilig, die Menschen wurden immer lethargischer. Das Mädchen übernahm nun besitzstandswahrend das 1-Frau-Abteil, während wir Sitzenden - irritiert vom ersten aufkommenden Ziehen in den Waden - yogagleich versuchten, eine andere Beinstellung zwischen den Gepäckstücken einzunehmen. Über das Ausstiegsprozedere auf den Berliner Bahnhöfen - kompliziert, da sich die Passagiere zum Unverständnis der Bahn nicht nach dem "last-in-first-out"-Prinzip in den Waggons positioniert hatten - berichte ich beim nächsten Mal - vielleicht und nur, wenn mir bis dahin der Geruch wieder aus der Nase gestiegen ist.

Die streng vernunftbegabten und lösungsorientierten Leser mögen nun anmerken, daß a) doch einfach längere Züge eingesetzt werden könnten, b) doch auch Gepäckablageflächen über den Fenstern bereitstehen und c) bestimmt kein Schaffner mehr die Fahrscheine kontrolliert.

zu a) Im Prinzip ja, aber viele Bahnsteige unterwegs sind für längere Züge einfach zu kurz. Da sich diese Pendler-Szenen angabegemäß zumindest jeden Sonntag wiederholen, könnte man den Takt verkürzen. Vermutlich viel zu simpel gedacht ...

zu b) Im Prinzip ja, jedoch nur für flache Laptops schneidiger Unternehmensberater und kleine Handtäschchen hipper Damen gedacht; beide Gruppen konnte ich im Zug nicht ausmachen.

zu c) Im Prinzip ja, aber blöderweise zahle ich für meine BC 100 pauschal im voraus.

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